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Reisebericht zu Andalusien→Sevilla→Zentrum Kathedrale

Die Kathedrale: Sevillas Prunkstück ist tatsächlich bombastisch, aber nicht unbedingt stilsicher

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Die Kathedrale von Sevilla wird eher wetterbedingt unser erstes Ziel der Besichtigung. Auch wenn die Schlange vor dem Eingang des bombastischen Bauwerks die Grundstimmung schon drückt, können wir auch am Ende unsere Enttäuschung kaum verhehlen: Dieses Bauwerk hat außer seinen Ausmaßen weder Stil noch Charakter. Sogar die Erstbesteigung des berühmten Glockenturms "La Giralda" gestaltet sich mehr als völkerkundlicher Feldversuch denn zu einem aussichtsreichen Erlebnis.

Nach der gestrigen "grünen" Pause im Nationalpark der "La Donana" wollen wir uns heute wieder der Stadterkundung widmen. Das Wetter zeigt sich nicht gerade berauschend, was aber im Rahmen einer Stadtbesichtigung zu verschmerzen ist. Wir werden unseren Wegeplan eben entsprechend darauf abstimmen. Die Metro bringt uns wieder zur Puerta de Jerez, wo es sogar leicht zu nieseln beginnt. Wir entscheiden uns daher dafür, zunächst einmal die Kathedrale zu besichtigen.

Die Kathedrale von Sevilla: Babylonische Verhältnisse schon bei der Schlange am Eingang

Am Haupteingang finden wir keinen Einlass, so dass wir den vorgestern bereits erkundeten Nebeneingang aufsuchen. Da sind wir richtig, wie an der Schlange, die sich bis in die immer noch auf Lore wartende Reihe der Kunsthandwerkerbuden hinein gebildet hat. Während sie Schuhe, Hüte, lokale Spezialitäten, Lederwaren und Kleider inspiziert, habe ich genügend Zeit, das Treiben der auch heute eifrig wirkenden Zigeunerinnen aus der gemächlich vorrückenden Schlange heraus zu beobachten. Ihr Erfolg ist mäßig, aus meiner vermutlich lauernden Grundhaltung lässt sich wohl erschließen, dass ich vorbereitet bin und so werde ich gar nicht erst angesprochen.

Vermutlich haben wohl die Wetterlage und der eher frühe Zeitpunkt dazu beigetragen, dass wir nicht ganz alleine sind mit dem Wunsch, das zentrale Gotteshaus Sevillas zu besichtigen. Auch wenn überall vor dem Andrang gewarnt wird, später am Nachmittag und auch zu allen anderen Zeiten, die wir hier noch erleben werden, hätten wir einfach hinein spazieren können. So haben wir noch etwas Zeit, die tatsächlich gigantischen Ausmaße der Kirche mit ihren gotischen Aussenverstrebungen zu studieren.

Etwas enttäuscht sind wir allerdings schon, als wir nach Durchstehen des Hofes an den Puerta de San Cristobal endlich den Eingang erreichen, nur um festzustellen, dass im folgenden Empfangssaal das Warten zwischen wie am Flughafen mit Bändern gebildeten Serpentinen weitergeht. Immerhin können wir schon einmal einen Blick auf die Glasregale des Museumsladens und die Sala Pabellon im Hintergrund werfen, in der die Kunstschätze ausgestellt werden.

Wie sich hier allerdings Inhaber einer Sevillacard bevorzugten Einlass verschaffen sollen, ist mir schleierhaft. Vielleicht gibt es ja einen separaten Eingang für diese Kunden. Wer jedenfalls hier versuchen sollte, sich an der Schlange vorbeizumogeln, dürfte kurzerhand einer vielsprachigen Lynchjustiz zum Ofer fallen. Sogar die Reisegruppe hinter uns musste sich anstellen, allerdings war deren Reiseleiter vor uns. Das beschwert uns mit einer weiteren zehnminütigen Pause, weil das vielköpfige Personal an Wachfrauen mit Argusaugen beobachtet, wie die Mitglieder der Gruppe einzeln mit jedesmal erneutem Piepsen des Strichcodes der Gruppenkarte die Metro-ähnliche Durchgangsschleuse passiert, dabei aber auch noch eigenhirnig mitzählen muss, ob die Anzahl der Schafe dem Herdenticket entspricht und so natürlich keinerlei Kapazitäten mehr frei hat, einzelne Besucher die zweite Schleuse betreten zu lassen.

Schon leicht ermüdet betreten wir die angrenzende Sala Pabellon und lassen uns in einer Fensterbank nieder zwecks Studiums unseres Reiseführers. Die gehorteten Kunstwerke des angesammelten Kulturschatzes wollen wir erst einmal ignorieren und uns dem Gesamtkunstwerk widmen. Immerhin haben die Architekten mitgedacht und uns gegenüber eine Toilette eingebaut, die nach der 40minütigen Quälerei auch angebracht ist.

Bombastische Ausmaße machen noch keinen Stil: Unser erster Eindruck ist etwas enttäuschend

Durch einen niedrigen Torbogen gelangen wir ins Innere der fünfschiffigen Kathedrale. "Wir wollen eine Kirche bauen, so groß, dass wir für verrückt gehalten werden", so lautete der vielzitierte Beschluss des Domkapitels 1401. Dass dies gelungen ist, sieht man auf den ersten Blick, wenn man den Hallenbau der Hauptschiffe betreten hat. Bis heute zählt die Kathedrale von Sevilla zu den größten ihrer Art weltweit.

Natürlich sind die auf dicken Säulen weit nach oben gezogenen Spitzbögen beeindruckend. Aber das "wow"-Gefühl, das beispielsweise jeden Besucher der Kathedrale von Cordoba sofort in seinen Bann zieht, will sich nicht so recht einstellen. Es ist laut und geschäftig, schummrig, aber weder kontemplativ dunkel wie in Cordoba noch aus Glasrosetten lichtschimmernd angefunkelt wie in Chartres. Wir merken schnell, dass die Hauptsorge des Einzelbesuchers darin besteht, nicht von einer der vielköpfig heranrasenden Reise- oder Schulgruppen über den Haufen gewalzt zu werden.

Die einzelnen Kapellen entlang der Seitenschiffe mögen durchaus beachtenswerte Kunstschätze beherbergen, sie wirken aber eher zufällig aneinander gereiht. Das Grabmal des großen Seefahrers Kolumbus fällt uns wegen seiner Nähe als erstes auf und gefällt auch. Die im Reiseführer kolportierten Geschichten betreffend den Streit über seinen Inhalt sind aber wesentlich spannender. Moderne Gentests scheinen zu beweisen, dass Teile seiner Gebeine tatsächlich hier bestattet sind, andere aber auf Santo Domingo. So setzt sich die Tragik eines verkannten Vorantreibers bis heute fort.

Wir sind etwas ratlos, wie wir uns einen eigenen Zugang zu diesem Bauwerk verschaffen sollen. Sich irgendwo in Ruhe auf eine Bank zu setzen, um den Raum auf sich wirken zu lassen, wie wir es gewohnt sind, ist nicht möglich, weil es keinen ruhigen Platz gibt. Wir steuern also die beiden zentralen Innenbauwerke an, die dort stehen, wo sonst die Gläubigen zum Altar schauen, den Chor und die Capilla Mayor.

Capilla Mayor und Cabildo, die Perlen von Sevillas Kathedrale

Deren Altarbild soll eines der monumentalsten Retabels ganz Spaniens sein, und da hatten wir ja in Granada schon sehr beeindruckende Beispiele gesehen. Hier hätten wir uns gerne mit der Kathedrale versöhnt. Leider ist es aber mit einer Plane verhängt, deren Aufdruck zwar einen Eindruck dessen verschaffen kann, was wir hätten sehen können, das Original mit seinen vielfältigen Figurenspielen jedoch nicht ersetzen kann. Gegenüber erstreckt sich der Chor, dessen dunkles, schön gearbeitetes Gestühl sicher bemerkenswert ist, sich aber wie alles hier mehr durch Größe denn durch Besonderheit von ähnlichen Bauwerken abhebt.

Am gegenüber liegenden Ausgang dieser kleinen Insel innerhalb der Kirche ist ein, natürlich, auch monumentaler Altar aufgebaut, der den Gläubigen eine silberfunkelnde Monstranz präsentiert. Hier ist zumindest Pomp und Gloria zu sehen, selbst wenn sich uns die innere Bedeutung auch nach Studium der begleitenden Hinweistafeln nicht erschließt. Dahinter geht es in den Orangenhof, über den sich aber gerade ein Sturzbach ergießt, was dazu führt, dass wir jetzt von den flüchtenden Horden geradezu wörtlich an die Wand gedrückt werden. Mit seinen mickrigen Bäumchen kann er aber dem von Cordoba das Wasser nicht reichen, von dem er gerade ertränkt wird, von den stillen Kreuzgängen in Granada gar nicht erst zu reden.

Eher wie Getriebene hasten wir zurück an der Capilla Real vorbei, die die eigentliche Apsis dieses Bauwerks bilden würde. An der Eingangsseite gegenüber befindet sich die Sacristia Mayor, eigentlich eine weitere Museumsabteilung. Aus zunehmender Enttäuschung heraus mag ich mich den aufgehängten, sehr berühmten Schinken gar nicht mehr widmen. Die raumbeherrschende Monstranz und noch mehr die Figur der Immaculada sind in ihrer Schönheit aber doch über alle negativen Gefühle erhaben.

Danach werden wir noch von einem Kleinod besänftigt. Der Kapitelsaal, Cabildo, und seine beiden von der Sacristia Mayor aus hinführenden Vorräume bilden schon ein bemerkenswertes, separates Renaissance-Ensemble. Hier haben sich die Kirchenfürsten einen eigenen, kleinen Mikro-Vatikan am Rande ihres Stilwirrwarrs gebaut. Der Cabildo selbst mit seiner ovalen Anlage und dem kunstvoll darauf zugeschnittenen Fußbodenornamenten wie auch der Deckenbemalung wäre überall sonst ein eigenständiges Kunstwerk. Hier geht er irgendwie unter. Am Ausgang dieser Renaissance-Insel lasse ich Lore im ruhigsten Eck der Kathedrale vor einem immerhin bemerkenswerten Comic-Gemälde zurück. Den vielgerühmten Aufstieg zum Glockenturm der La Giralda kann sie nicht erschnaufen, und hier hat sie so lange was zu sehen, ist geschützt vor den herumrasenden Horden und ich werde sie wieder finden.

La Giralda: Lebendes Völkerkundemuseum statt Kunst oder Aussicht

Hier packt mich endgültig ein Wutgefühl auf sämtliche Reiseführer, die mich bisher an sich gut beraten haben. Die Höchstzahl an Sternen mag für die Aussenansicht des Glockenturms durchaus zutreffen. Im Inneren erlebe ich großartige Szenen, die aber mit der Architektur gar nichts zu tun haben.

34 Rampen führen zur Aussichtsplattform, damit sind schräge Aufgänge gemeint, die sich anstelle von Treppen in den Turm wickeln. Unsere Vorfahren waren nämlich nicht so blöde wie wir, die sind in Ermangelung eines Lifts mit Pferden hinaufgeritten. Anfänglich bin ich aber ganz optimistisch, unten am Eingang in der Kathedrale zeigen zwar Digitalziffern seltsame Codes an, aber es herrscht im Gegensatz zum Hauptschiff ziemliche Ruhe.

Leider zeigen die Displays aber nicht die Etagenbereitschaft eines Lifts an, sondern die Anzahl der sich gerade im Turm befindlichen Besucher. Das merke ich schnell, schon nach wenigen Rampen, also Abschnitten der Außenwand, wird mein zügiger Antritt jäh abgebremst. Ich habe das Ende der Schlange erreicht.

Was jetzt folgt, ist eher ein kulturpsychologisches Feldstudium denn eine Besichtigung. Im Inneren des Turmes sind immer wieder keine Besichtigungsnischen eingebaut, nach außen kann man in kleinen Balkönchen nach außen blicken. Wer sich dort aber hineinwagt, muss ähnlich wie beim Beschleunigungsstreifen der Autobahnen erst wieder Einlass finden in den sich zäh nach oben ziehenden Pilgerstrom. Je nach Kultur der Herkunft geschieht dies anders, boxend, schreiend, mogelnd, schiebend oder auch schockiert gar nicht.

Auch verschieden gestaltete Muster an Überholmanövern sind durchaus spannend zu beobachten. Die Rampen gestatten ja nur eine Spur nach oben und eine nach unten, wobei letztere natürlich lockerer besetzt ist, aber durchaus nicht zu unterschätzen. Mancher holt sich hier bildlich eine blutige Nase, wenn ihm beim Überholen mit Vollgas eine Reisegruppe entgegen kommt. Ich denke, hier würden sich auch verkehrspsychologische Modelle gut studieren lassen.

Die Aussicht von der irgendwann erreichten Plattform ist natürlich schön, gerade wenn man Sevilla zum ersten Mal von oben sehen kann wie ich. Das erneute Schlange stehen vor jedem einzelnen Balkon nervt jedoch und gleicht manchmal eher dem Ellenbogencheck beim Warten auf das Ende des Fotoshootings des aktuellen Platzhirschen. Interkulturell ist halt nicht festgelegt, ob man sich von rechts oder von links anstellen muss.

Die Besichtigung der La Giralda ist also mehr ein interkulturelles Feldstudium. Morgen werde ich ganz gemütlich von der Plaza Mayor aus denselben Überblick über Sevilla genießen, in aller Ruhe und Stille, mit einem Raumschiff-Enterprise-Lift dorthin befördert und mich fragen, was ich hier wollte.

Gigantische Kathedralen wie in Sevilla ersetzen weder Stil noch kulturelle Wirkung, die kleineren Quartierskirchen zeigen genau das

Genau dieses Gefühl wird unseren Sevilla-Urlaub letztlich beenden. Ziemlich enttäuscht angesichts der bisher gesehenen Einzigartigkeiten in Granada und Cordoba verlassen wir die Kathedrale. Wir haben einfach zu viel erwartet angesichts dessen, was wir bereits gesehen haben und nicht den Mut aufgebracht, ein solches architektonisches Schwergewicht zu ignorieren. Andererseits ist diese Kathedrale das geistige und soziale Zentrum der verschiedenen Bruderschaften Sevillas, Zielpunkt aller Prozessionen und Magnet der sich in den einzelnen Vierteln ganz verschieden entwickelten Formen christlichen Glaubens.

Der echte Glaube spielt sich in den kleinen Kirchen um die Kathedrale herum ab, denke ich. Dessen Entwicklung über die Jahrhunderte lässt sich dort auch ansehen und erfahren. Ich konnte nur wenige von innen ansehen, war aber schwer beeindruckt von den mit Stolz ausgestellten und gepflegten kleinen Zeugnissen einer sehr lange währenden inneren Gemeinschaft. Beim nächsten Besuch werde ich anstelle des Schlange Stehens meine Zeit dazu nutzen, einen Plan zur Besichtigung dieser kleinen Kirchen zu erstellen. Den braucht es, weil sie selten geöffnet sind, manchmal sogar nur für die Gottesdienste, während denen man ja auch nicht gaffend und knipsend herumziehen mag.

Mag sein, dass unser übereinstimmendes Urteil ungerecht ausfallen mag. Die Sevillanos von 1401 haben ihr Ziel erreicht. Diese Kathedrale ist gigantisch, was ihr auch von außen unschwer anzusehen ist. In ihrem Inneren haben wir aber nichts gefunden, was diesem Ruf gerecht würde, abgesehen von einem Marktplatz an musealen Einzelstücken und entsprechendem Treiben. Wie überall haben wir die Kirche durchaus gesucht, konnten sie aber nicht finden. Vielleicht waren wir aber nicht geduldig genug.

Wenn Sie dem Verlauf dieser Reise folgen möchten

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Und hier der Gesamtüberblick dieser Reise mit allen Berichten


© 2004-2014 by Martin Haisch Gastromartini gastrobetreuung.de

Zuletzt aktualisiert am 27. Mai 2014

Mit ausdrücklichem Dank an Apachefriends und alle Open-Source-Entwickler, deren Arbeit solche Projekte erst ermöglicht
sowie an Lore für Begleitung und Ertragen programmierungstechnisch bedingter Abwesenheiten

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